Über die Folgen der US-Blockade gegen Kuba, internationale Solidarität und den Charakter der Volksvertretung auf der sozialistischen Insel. Ein Gespräch mit Fernando González Llort
Interview: Volker Hermsdorf
Zunächst einmal: Glückwunsch zu Ihrer erneuten Wahl als Abgeordneter der kubanischen Nationalversammlung, dem Parlament Ihres Landes. Was sind Ihrer Einschätzung nach die größten Herausforderungen in der zehnten Legislaturperiode des Parlaments, das sich am 19. April konstituiert?
Vielen Dank für die Glückwünsche zu meiner Wiederwahl als Abgeordneter in die Asamblea Nacional del Poder Popular. Es war ein Wahlprozess, der in einem sehr komplexen Kontext für das Land und in einer komplizierten wirtschaftlichen Situation als Folge der US-amerikanischen Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade und der Auswirkungen der internationalen Wirtschaftskrise stattfand. Unter diesen schwierigen Umständen bin ich der Meinung, dass wir mit der Beteiligung von fast 76 Prozent der Wahlberechtigten bei der Wahl der 470 vorgeschlagenen Abgeordnetenkandidaten einen wichtigen Sieg errungen haben. Ich sehe darin einen Beweis für die Unterstützung unseres Volkes für die Revolution und die politische Führung des Landes. Die zehnte Legislaturperiode, die am 19. April, dem Jahrestag unseres Sieges über die Invasion in der Schweinebucht, mit der offiziellen Konstituierung der neu gewählten Nationalversammlung beginnt, wird eine umfangreiche Tagesordnung mit mehreren Schwerpunkten haben.
Um welche Schwerpunkte geht es dabei?
In dieser intensiven Arbeitsagenda werden drei Prioritäten festgelegt. Zunächst geht es darum, Ziele und Maßnahmen zu definieren, die zur Stärkung unserer Wirtschaft beitragen. Diese Priorität ist die größte Herausforderung, da es sich um ein komplexes Thema handelt und wir das Wachstum ankurbeln, ihre Dynamik steigern und die Entwicklung des Landes Schritt für Schritt vorantreiben müssen. Diese Anstrengungen müssen vor dem Hintergrund der intensiven Feindseligkeit der US-Regierung unternommen werden, die ihre Blockade gegen unser Land und ihre Versuche, unsere Wirtschaft zu ersticken, verstärkt. Außerdem befinden wir uns inmitten einer internationalen Wirtschaftskrise, die uns alle betrifft und beeinträchtigt.
Eine zweite Priorität wäre die für diese kommende zehnte Legislaturperiode vorgeschlagene intensive legislative Agenda. Erinnern wir uns daran, dass während der neunten Legislaturperiode in Kuba im Jahr 2019 eine neue Verfassung beschlossen wurde. Die Verabschiedung der neuen Magna Charta führte dazu, dass fast das gesamte Gesetzeswerk des Landes geändert werden musste, um es mit der aktuellen Verfassung in Einklang zu bringen. Auch gänzlich neue Gesetze sind notwendig. In der kürzlich zu Ende gegangenen Legislaturperiode wurden bereits die meisten Gesetzesentwürfe diskutiert und verabschiedet. Allerdings konnte der Prozess nicht abgeschlossen werden, und eine große Anzahl wichtiger Gesetzesentwürfe, die diskutiert und verabschiedet werden müssen, steht noch immer auf der Tagesordnung der Legislative.
Die dritte definierte Priorität wäre die Kontinuität bei der Behandlung der Vorschläge und Aufträge, die die Bevölkerung uns Kandidaten zur Abgeordnetenwahl während unserer Besuche in den Gebieten, für die wir nominiert wurden, unterbreitet hat. Es wird auch darum gehen, diesen Arbeitsstil des ständigen Kontakts mit den Menschen zu konsolidieren. Ein Schwerpunkt wird darin bestehen, zusammen mit der Bevölkerung vor Ort nach Lösungen für die dort existierenden Schwierigkeiten und Probleme zu suchen und die Ergebnisse umzusetzen.
Westliche Politiker und auch einige Medien behaupten, dass die Wahlen nicht demokratisch gewesen sein können, weil es in Kuba außer der Kommunistischen Partei keine anderen Parteien gibt. Was sagen Sie zu derartigen Vorwürfen?
Politiker und die Presse im Westen versuchen häufig, den Wahlprozess in Kuba zu disqualifizieren, indem sie behaupten, er sei nicht demokratisch, weil es nur eine Partei gebe. Dies ist eine böswillige Vorgehensweise vieler dieser Politiker und Medien. Bei einigen rührt diese Haltung möglicherweise auch aus einem Mangel an Informationen und Kenntnissen über die Funktionsweise des kubanischen Wahlsystems. Es ist richtig, dass es bei uns nur eine Partei gibt: die Kommunistische Partei Kubas. Wir brauchen keine weitere Partei. Sie ist die Partei des kubanischen Volkes. Sie ist diejenige, die alle Kubaner in unserem Kampf um die Unabhängigkeit und Souveränität unseres Landes vereint, angesichts eines sehr mächtigen Gegners, der mit allen Mitteln versucht, uns wirtschaftlich und politisch wieder von ihm abhängig zu machen, so dass wir als Nation aufhören würden zu existieren. Nehmen Sie zum Beispiel Puerto Rico.
Der demokratische Charakter einer Wahl hängt nicht unbedingt davon ab, wie viele Parteien daran teilnehmen. In Kuba stellt die Kommunistische Partei keine Kandidaten auf. Die Kandidaten werden auf der Ebene der Wahlkreise nominiert und gewählt. Das heißt, in den Stadtteilen und Dörfern, in denen sie leben. Sie werden von den Nachbarn vorgeschlagen, die sie kennen, die wissen, wie sie leben, wie sie sich in der Gemeinschaft verhalten, ob sie anständig und vertrauenswürdig sind und sich für die Revolution einsetzen, ob sie ernsthaft sind oder nicht, menschlich, interessiert an den Problemen ihrer Wähler. Die Partei mischt sich in diesen Prozess nicht ein. Auch ein einzelner hat das Recht, sich als Kandidat vorzuschlagen. Und in diesem Prozess muss niemand Mitglied der Kommunistischen Partei sein. Sie können es sein, müssen es aber nicht. Unser Parlament umfasst in allen Legislaturperioden auch Kolleginnen und Kollegen, die nicht Mitglied einer Partei sind. In dieser zehnten Legislaturperiode sind zum Beispiel von den 470 Abgeordneten, die am 26. März gewählt wurden, zwölf weder Mitglieder der Kommunistischen Partei noch des Kommunistischen Jugendverbandes. Das entspricht 2,55 Prozent der Parlamentarier der Nationalversammlung.
In westlichen Ländern haben die Wählerinnen und Wähler keinen Einfluss bei der Nominierung von Bewerbern für die Parlamente. Sie können sich nur zwischen Kandidaten entscheiden, die von Parteien ausgewählt wurden. Nach Ansicht vieler Menschen hier ist das demokratischer. Was antworten Sie denen?
Ich frage mich, was in den westlichen Ländern geschehen würde, deren Politiker die Wahlen in Kuba disqualifizieren, wenn ihre Parlamentskandidaten in den Stadtvierteln, in denen sie leben, nominiert und gewählt würden, unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit. Und wenn diese, direkt von der Bevölkerung, also den Menschen in ihren Gemeinden, und nicht von ihrer jeweiligen Partei aufgestellten Kandidaten, dann auch diejenigen wären, die für die Vertretung im nationalen Parlament bestätigt würden. So machen wir es in Kuba. Wir glauben, dass dies demokratischer ist.
In Kuba ist es übrigens verfassungsmäßig vorgesehen, dass ein Kandidat abberufen werden kann, wenn seine Wählerinnen und Wähler der Meinung sind, dass er oder sie seiner oder ihrer Verantwortung gegenüber dem Volk nicht gerecht wird. Es ist auch gesetzlich vorgeschrieben, dass dieser Kandidat der Bevölkerung, die ihn gewählt hat, regelmäßig Rechenschaft ablegen muss.
Wer die Wahlen in Kuba disqualifiziert, weil es nur eine Partei im Land gibt, den möchte ich bitten, sich einmal darüber zu informieren, wie Wahlen hier funktionieren. In den allermeisten Fällen wissen die Kritiker dies nicht einmal und wiederholen lediglich ein Klischee, das sich in ihren Köpfen festgesetzt hat, weil sie es nicht gewohnt sind, die Informationen, die sie über die Medien erhalten, kritisch zu analysieren. In anderen Fällen handelt es sich um politisch voreingenommene Personen.
Ende März fand in Berlin der Auftakt der diesjährigen europäischen Unblock-Cuba-Kampagne statt. Unter welchen Auswirkungen der US-Blockade leidet die kubanische Bevölkerung derzeit am stärksten?
Die Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade, die die US-Regierung seit 60 Jahren gegen Kuba verhängt, hat schwerwiegende Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und auf das tägliche Leben aller Kubaner. Fast 80 Prozent der derzeitigen Bevölkerung unseres Landes haben ihr ganzes Leben lang unter den Folgen dieser kriminellen Politik gelitten. Der Schaden für unser international als vorbildlich anerkanntes Gesundheitssystem ist verheerend. Unseren Krankenhäusern und Kliniken fehlt es zu einem großen Teil an Medikamenten und Verbrauchsmaterial, um die Bevölkerung so zu versorgen, wie es sein sollte. Selbst für die Medikamente, die wir in unserem Land herstellen, werden importierte Produkte benötigt, die wir in vielen Fällen nicht erwerben können. Die Ausstattung der Krankenhäuser verschlechtert sich, und es ist sehr schwierig, manchmal sogar unmöglich, sie zu ersetzen. Auch weniger komplizierte Dinge wie Reinigungsartikel für die Säuberung und Desinfektion von Krankenstationen sind nicht verfügbar. Es gibt Kinder mit lebensbedrohlichen Krankheiten wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die nicht angemessen behandelt werden können, weil spezielle Medikamente in US-Labors oder in anderen Ländern, aber mit Beteiligung von US-Pharmaunternehmen hergestellt werden.
Die Engpässe in unseren Handelsnetzen sind gravierend, weil das Land nicht in der Lage ist, Konsumgüter, manchmal sogar lebenswichtige Güter, zu importieren oder zu produzieren. Wir sind eine offene Volkswirtschaft, die auf importierte Rohstoffe und Vorprodukte angewiesen ist, um eine beträchtliche Anzahl der Güter, die unsere Industrie herstellen kann, im Inland zu produzieren. Die Blockade beeinträchtigt die inländischen Produktionskapazitäten erheblich, da wir nicht in der Lage sind, Vorleistungen einzuführen. Auch unser Zugang zu Krediten von Finanzinstituten oder internationalen Banken ist stark eingeschränkt. Das macht es sehr schwierig, den Handel zu betreiben, der notwendig wäre, um unsere Wirtschaft effizient am Laufen zu halten.
Zusätzlich zur Blockade hat Washington Kuba auf eine US-Liste von Staaten gesetzt, die Terrorismus fördern. Mit welcher Begründung?
Bevor er das Weiße Haus verließ, setzte der damalige Präsident Donald Trump Kuba wieder auf die US-Liste der Länder, die als Sponsoren des Terrorismus gelten. Er tat dies ohne Beweise oder Rechtfertigung. Einfach weil er wusste, dass ein solcher Schritt Kuba automatisch den Zugang zu den Institutionen des internationalen Finanzsystems verwehren würde. Sein Nachfolger Joseph Biden hat daran bisher nichts geändert.
Auch in Europa wird von interessierter Seite – wie in den USA – unterstellt, dass die US-Blockade nicht die Hauptursache der wirtschaftlichen Probleme in Ihrem Land sei. Als Beispiel werden etwa Stromausfälle genannt. Was sagen Sie dazu?
Unsere Stromerzeugungskapazitäten sind durch die Überalterung unserer Kraftwerke stark eingeschränkt. Aber auch das liegt an der Unmöglichkeit, aufgrund der Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade angemessene Wartungsarbeiten nach den vorgesehenen Zeitplänen durchzuführen. Dies hat zu Pannen und Ausfällen des Stromerzeugungssystems aufgrund von Fehlfunktionen geführt, mit der bekannten Notwendigkeit, Stromausfälle zu planen, die unsere Bevölkerung und die Produktionsfähigkeit unserer Industrie beeinträchtigen. Produktionsanlagen mussten abgeschaltet werden, um das Defizit zwischen der erzeugten Strommenge und der Nachfrage nach dieser Dienstleistung zu verringern, insbesondere, aber nicht nur, zu Spitzenverbrauchszeiten.
Dies sind nur einige der Auswirkungen, die die Blockade für unser Land mit sich bringt. Es würde den Rahmen dieses Interviews sprengen, sie alle aufzuzählen, denn sie betreffen alle Lebensbereiche. So ist unsere Bevölkerung im Alltag ständig von den Auswirkungen dieser kriminellen Politik betroffen, die darauf abzielt, die Menschen dazu zu bringen, ihr Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit aufzugeben. Es ist ganz einfach ein Versuch, unser Volk durch Erschöpfung, Verzweiflung und anhaltendem Mangel an Ressourcen zum Aufgeben zu bringen.
Im Herbst steht die nächste Abstimmung über den Antrag zur Beendigung der Blockade in der UN-Generalversammlung an. Welche Bedeutung hat das UN-Votum für Kuba, obwohl die USA sich ja seit Jahren nicht daran halten?
Bei bislang 30 Gelegenheiten hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit überwältigender Mehrheit eine Resolution verabschiedet, in der die Regierung der Vereinigten Staaten aufgefordert wird, die Blockadepolitik gegen Kuba zu beenden. Dieses Jahr wird keine Ausnahme von dieser Regel sein. Es ist absehbar, dass die Resolution erneut verabschiedet wird. Dennoch hält die US-Regierung an ihrer feindseligen und kriminellen Politik fest. Dies zeigt, dass Washington den Willen der großen Mehrheit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich seiner wichtigsten Verbündeten, nicht respektiert. Es zeigt aber auch, dass die Mechanismen der Vereinten Nationen umgestaltet und demokratisiert werden müssen. Es ergiebt keinen Sinn, dass die überwiegende Mehrheit aller Staaten der Welt dagegen ist und es keinen Mechanismus gibt, um den Willen fast aller Nationen, die die große Mehrheit der Weltbevölkerung repräsentieren, durchzusetzen. Dennoch ist die Annahme der Resolution, die Kuba jedes Jahr vorlegt und in der die US-Regierung mit einer detaillierten Begründung aufgefordert wird, die Blockade aufzuheben, ein politischer Sieg für Kuba und eine moralische Verurteilung der US-Regierung. Das Ergebnis der Abstimmung zeigt, wie isoliert die USA in dieser Frage in der Welt sind.
Es ist leider wahr, dass sie in ihrer Arroganz nicht akzeptieren, was die Welt fast einstimmig von ihnen verlangt. Deshalb glauben wir, dass es wichtig ist, weiterhin überall das Bewusstsein für den tatsächlichen kriminellen Charakter der Blockade gegen Kuba zu schärfen und alle rechtlichen Möglichkeiten in jedem Land zu nutzen, um den nationalen Regierungen klarzumachen, dass ihre jährliche Abstimmung in der Generalversammlung nicht ausreicht. Es ist notwendig, dass diese nationalen Regierungen die Souveränität ihrer Länder verteidigen, die von der extraterritorialen Anwendung der Verordnungen, die die Blockade gegen Kuba ausmachen, betroffen ist.
Sie haben Deutschland zum ersten Mal besucht. Welche Eindrücke haben Sie hier in der kurzen Zeit Ihres Aufenthalts gewonnen?
Es ist tatsächlich das erste Mal, dass ich Deutschland besuchen konnte. Seit mehreren Jahren haben wir auf einen Besuch in diesem Land hingearbeitet, in dem wir so viele gute Freunde haben. Die Umstände der Arbeit und dann die Covid-19-Pandemie haben dies aber lange verhindert. Ich danke den Solidaritätsorganisationen in Deutschland und allen unseren Freunden für die Anstrengungen, die sie unternommen haben, damit ich endlich kommen und sie treffen konnte.
Deutschland ist ein Land mit einem hohen wirtschaftlichen Entwicklungsstand, mit hart arbeitenden, fleißigen und guten Menschen, mit sehr schönen Orten. Es gibt in Deutschland Organisationen, die sich seit vielen Jahren für die Solidarität mit Kuba einsetzen, und ein sehr effizientes Netzwerk der Kuba-Solidarität, das gut organisiert arbeitet und unserem Volk wichtige politische Unterstützung in unseren Kämpfen bietet.
Viele Menschen in Deutschland verteidigen das Recht der Kubaner, in einem freien, unabhängigen und souveränen Land zu leben, und lehnen die US-Blockade kategorisch ab. Es gibt auch deutsche politische Organisationen, die Verständnis für die schwierigen Umstände haben, die die USA Kuba ungerechterweise auferlegen. Einige von ihnen stimmen in verschiedenen Fragen mehr überein als andere, aber diese Unterschiede sind kein Hindernis für die Beziehungen und die Arbeit. Ich bin mit der Gewissheit nach Kuba zurückgekehrt, dass die Solidaritätsorganisationen hier in Deutschland ihr Engagement fortsetzen werden und den Willen haben, auch weiterhin mit großer Effizienz zugunsten der Bemühungen unseres Volkes zu arbeiten.
Textquelle: junge Welt: Ausgabe vom 15.04.2023, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage