Über den Vorschlag, den kubanischen Henry-Reeve-Ärztebrigaden den Nobelpreis zu verleihen. Ein Gespräch mit Wolfram Elsner und Norman Paech. Interview: Volker Hermsdorf
Prof. Dr. Wolfram Elsner ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bremen (i. R.) und war Leiter des Bremer Landesinstituts für Wirtschaftsforschung. Er ist Herausgeber der internationalen Zeitschrift Review of Evolutionary Political Economy.
Prof. Dr. Norman Paech ist Jurist und emeritierter Professor für Politikwissenschaft und für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg.
Norman Paech: Seit 2005 schickt diese Organisation Tausende von Ärztinnen und Ärzten in die Welt, um bei Katastrophen – ob Erdbeben, Orkane, Überschwemmungen oder Epidemien – medizinische Hilfe zu leisten. Wer weiß schon, dass im März 2020 zwei Delegationen von mehr als 50 Spezialisten in der Lombardei und Turin bei der Bekämpfung der Coronapandemie geholfen haben? Allein der Vorschlag, dieser Organisation den Preis zu geben, vermag vielleicht, diesem großen Beispiel internationaler Solidarität die verdiente Öffentlichkeit zu geben.
Warum haben Sie das kubanische Henry-Reeve-Ärztekontingent für den diesjährigen Friedensnobelpreis vorgeschlagen?
Wolfram Elsner: Ich beobachte die Aktivitäten der Henry-Reeve-Kontingente seit Jahren. Ihre Einsätze sind ein Symbol der Hoffnung in einer Welt, die sich in den letzten Jahrzehnten in vielen Aspekten alles andere als zum besseren entwickelt hat, und ein Symbol für eine menschlichere, zivilisiertere Zukunft.
Wie haben Sie die Nominierung gegenüber dem Komitee in Oslo begründet?
Paech: Diese seit 15 Jahren ununterbrochen und weltweit geleisteten medizinischen Hilfen bedeuten einen außergewöhnlichen und nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag zum Frieden in der Welt. Trotz der nun schon über 60 Jahre andauernden Blockade hat die kubanische Gesellschaft den enormen Aufwand und große finanzielle Aufwendungen auf sich genommen, mit dem Henry-Reeve-Kontingent eine bemerkenswerte humanitäre und für den Frieden wichtige Initiative zu ergreifen und zu organisieren. Es ist ein einzigartiges Beispiel gesellschaftlichen Engagements, das ausschließlich der Rettung menschlichen Lebens und den friedlichen Beziehungen in der Welt verpflichtet ist.
Elsner: Das Henry-Reeve-Kontingent ist in der heutigen Welt der relativen Deglobalisierung, der sich verschärfenden Armut, des sich ausbreitenden Hungers, der zunehmenden Konflikte um Ressourcen, der Flüchtlingsbewegungen, sowie nun auch einer globalen Pandemie ein Inbegriff praktischen und effektiven humanitären Handelns geworden. Handeln direkt bei den Bedürftigsten, direkt von Mensch zu Mensch, ist der Inbegriff der vielbeschworenen internationalen Solidarität, die Che Guevara als »Zärtlichkeit der Völker« bezeichnet hat. Hier geht es nicht um eine der vielen isolierten Spendenkampagnen aus jeweils aktuellen Anlässen, die dann schnell wieder in Vergessenheit geraten. Hier geht es um jahrzehntelanges konsequentes und helfendes Handeln – etwas, was die Staaten dieser Welt gemeinsam noch nicht hinbekommen haben. Dieses Engagement sieht problemlos und wohlorganisiert aus, aber es kann nicht hoch genug geschätzt werden, was die einzelnen Mediziner und Pflegekräfte auch persönlich während jeder Mission an Verzicht und persönlichem Risiko auf sich nehmen. Das ist – in aller Bescheidenheit eines seit Jahrzehnten international tätigen und vernetzten Akademikers gesagt – wahres Heldentum. Und es ist auch bewundernswert, wie der kubanische Staat, trotz eigenen Mangels und ständigen Überlebenskampfes unter einem existenzgefährdenden, mittelalterlichen Sanktionsregime, mit den bedürftigen Ländern der Welt, mit der UNO, der WHO und den Mitgliedern der Brigaden immer wieder Formen findet, diese Hilfe möglich zu machen.
Und wie beurteilen Sie die Erfolgschancen für den Nobelpreis?
Elsner: Gering bis nicht vorhanden.
Paech: Es müsste wohl ein Wunder geschehen. Aber schon die Aufmerksamkeit, die die internationale Vorschlagskampagne für dieses humanistische Projekt haben kann, ist ein Erfolg.
Frühere Preisträger wie Henry Kissinger, Barack Obama und die Europäische Union sind kritisch zu betrachten. Welche Bedeutung hat der Preis heute trotzdem noch?
Paech: Der Preisstifter Alfred Nobel hat in seinem Testament verfügt, dass der Preis denjenigen verliehen werden soll, »die im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht haben«. Da sind schon viele falsche Entscheidungen getroffen worden, und der Preis hat darunter gelitten. Er könnte dringend eine Auffrischung vertragen, die mit der Verleihung an die Brigaden gelingen würde.
Elsner: Der Preis könnte helfen, der Welt ein Gefühl von Einheit, von nichtteilbarer Natur, von gemeinsamem Menschheitserbe, gemeinsamen Herausforderungen und dem notwendigen gemeinsamen Handeln zu geben. Gesundheit, Frieden, auch in der Natur, und Gesundheit der Menschen gehen nur zusammen und nur global – man nennt es deshalb heute, nicht nur in den Wissenschaften, »Global Health«. Der Preis müsste allerdings politisch aus dem hegemonialen System herausgelöst werden.
Was sagen Sie zu dem Vorwurf, Kuba würde mit Entsendung der Henry-Reeve-Brigaden Menschenhandel betreiben?
Paech: Das ist völlig absurd. Aber den Politikern eines Landes, welches seit 1945 eine Blutspur in der Welt von Vietnam über Afghanistan, Irak bis Syrien gezogen hat, muss natürlich ein humanitäres Programm eines kleinen Landes, das man sowieso als Gefahr für das eigene System bekämpft, ein Dorn im Auge sein.
Elsner: In der Psychologie nennt man so etwas meines Wissens »Projektion«: Die eigenen tatsächlichen Schweinereien dem »anderen« als Absicht unterstellen. Anders gesagt: Der Brandstifter schreit »Feuer!«. Washington könnte sich einmal für die humanitären Katastrophen im eigenen Land interessieren: die Opioidkatastrophe, die zunehmenden Suizide aus Verzweiflung, die sinkende Lebenserwartung des »White Trash«, insbesondere der weißen Männer mittleren Alters, der sich wieder ausbreitenden Hungersnot, von Arbeitssklaven in der US-Landwirtschaft und andernorts ganz abgesehen.
Republikanische US-Senatoren haben im Juni den Gesetzentwurf »Cut Profits to the Cuban Regime Act« eingebracht, der es Drittländern erschweren soll, die Dienste kubanischer Mediziner in Anspruch zu nehmen. Staaten, die dagegen verstoßen, drohen Sanktionen. Wie bewerten Sie das?
Elsner: Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Mit dem Hinweis auf Verstöße gegen UN-Beschlüsse und gegen Völkerrecht oder mit extraterritorialer Rechtsanwendung – vulgo: Imperialismus – braucht man diesen Putschisten ja gar nicht erst zu kommen. Das verstehen sie schon rein intellektuell nicht und emotional sowieso nicht. Hegemoniales Business as usual. Die Erde ist trotzdem keine Scheibe, und sie dreht sich überraschenderweise weiter. Aber die USA dürfen sich natürlich in bezug auf Sanktionen so lange selbst ins Knie schießen, bis sie an irgendeinem Punkt kollabieren.
Paech: Der Gesetzentwurf ist eine neue Waffe im Krieg gegen Kuba und wie die ganze 60jährige Geschichte des Boykotts völkerrechtswidrig. Gegenwärtig sind etwa 30.000 medizinische Fachkräfte in 59 Ländern tätig. Mit Teilen ihrer durchweg höheren Gehälter im Ausland wird das kostenlose Gesundheitssystem finanziert, das wiederum dem im Ausland tätigen Personal eine hochqualifizierte Ausbildung bietet. Das soll blockiert werden.
Kuba ist im Vergleich zu anderen Ländern bisher noch vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie gekommen. Woran liegt das?
Elsner: Kuba ist eine Gesundheitsweltmacht. Das hervorragende Gesundheitssystem, das vom ersten Tag der Revolution an aufgebaut wurde, zusammen mit den Erfahrungen der Henry-Reeve-Kontingente, erzeugte irgendwann seine Rückwärtskopplung in Form der Entwicklung sogenannter generischer Arzneimittel. Bekannt wurde der Fall günstiger HIV/AIDS-Medikamente aus Kuba in den frühen 2000ern. Später dann die Rückwärtskopplung in Form eines der führenden biomedizinischen und pharmakologischen Forschungs- und Entwicklungscluster der Welt, das seit vielen Jahren eine große Zahl an biomedizinisch-pharmakologischen Patenten hervorbringt. Kein Wunder, dass der wankende Elefant im Abstiegskampf, der wieder Hegemon werden will, alles daran setzt, diesen Fortschritt zu zerstören.
Paech: Nun, Kubas Insellage und Trumps Anordnung, dass weniger US-Bürger nach Kuba reisen können, mögen dabei hilfreich gewesen sein. Wesentlicher aber ist, dass in Kuba seit der Revolution ein Gesundheitssystem mit den meisten Ärzten pro Einwohner in der Welt und einer unvergleichlich dichten medizinischen Vorsorge aufgebaut wurde. Das Embargo der USA hat zudem eine eigene pharmakologische Forschung und Produktion von internationalem Niveau hervorgebracht.
Auch bei der Verteilung der Impfstoffe will Kuba einen anderen Weg einschlagen. Welche Bedeutung könnte das für die Bekämpfung der Pandemie haben?
Elsner: Kuba geht hier einen Weg zusammen mit China und zum Teil mit Russland, die 2020 versprochen hatten, den ärmsten Ländern ihre Impfstoffe zur Verfügung zu stellen. Konsequent, wenn man verstanden hat, dass die Pandemie eine kollektive Menschheitsherausforderung ist und Gesundheit nur als kollektives Menschheitsgut geht. Vom Westen hört man in diesen Zeiten nichts über eine Verteilung an die Ärmsten, nur Gerangel um die Verteilung untereinander. Nachdem sich die Polemiken um die Impfstoffe vielleicht einmal gelegt haben werden, wird sich die Impfstofffrage als weitere Dimension der gegenwärtigen großen Zeitenwende herausstellen: Die Völker werden sich erinnern, ähnlich wie 2020 in der ersten Pandemiewelle, wer ihnen in der Not geholfen hat und wer nicht.
Paech: Der im Finlay-Institut entwickelte Impfstoff »Soberana 02« hat die klinischen Tests der ersten beiden Phasen durchlaufen. Der Test der Phase drei findet im Iran statt, da es auf der Insel zuwenig Probanden gibt. Kuba arbeitet überdies mit Russland und China zusammen. Diese internationale Kooperation stellt sicher, dass auch diejenigen Länder Impfstoff erhalten werden, die nicht die Preise der großen Konzerne bezahlen können.
Die US-Blockade schadet dem kubanischen Gesundheitswesen und schränkt Möglichkeiten für Hilfseinsätze ein. Könnten Bundesrepublik und EU nicht mehr dagegen tun?
Paech: Die EU hat sogar schon etwas getan und die europäischen Firmen aufgefordert, das Embargo nicht zu befolgen. Sollten die USA sie daraufhin sanktionieren, hat die EU Kompensation versprochen. Bisher aber nur mit mäßigem Erfolg – die Unternehmen fürchten die langfristigen Folgen von US-Sanktionen zu sehr.
Elsner: Die Deutsch-EU träumte unter Trump von einer strategischen Eigenständigkeit gegenüber Washington. Dafür wäre es ein Zeichen, sich einmal nicht an den Amokläufen der Strafmaßnahmen Washingtons zu beteiligen. Aber mit der neuen transatlantischen Welle von Grünen, FDP, großen Teilen von CDU und SPD und inzwischen auch kleineren Teilen der Linken fehlen hier der politische Wille und der Mut, die ökonomische Kraft dafür einzusetzen. Statt dessen sprießen Phantasien über eine neue, alte Freihandelswelt mit Bidens Washington.
Warum bekommen Kuba und China die Pandemie besser in den Griff als etwa Brasilien und die Weltmacht USA?
Elsner: »It’s the System, Stupid!« Wir sehen, wie die angelsächsischen Länder und einige ihrer neoliberal ruinierten Follower, wie etwa Brasilien oder Indien, kaum noch öffentliche oder gesellschaftlich-kollektive Handlungskompetenzen besitzen. Statt dessen Handlungsunfähigkeit, -unwilligkeit und -chaos, Triage und vielfältige humanitäre Katastrophen. Wenn wir auf China oder Kuba schauen, sehen wir, dass es aber nicht nur einfach hohe organisatorische Handlungsfähigkeit ist, sondern der systemische Unterschied sich auch im großen sozialen Vertrauen – gegenseitig und in staatliches Handeln – und in der massenhaften sozialen Mobilisierung für den gemeinsamen Kampf beweist.
Paech: Ein Blick auf die Rolle des sozialen Zusammenhalts, der sozialen Disziplin und Mobilisierung in den Gesellschaften von Kuba und China einerseits und die Bedeutung der Individualisierung, Privatisierung und Deregulierung aller gesellschaftlichen Bereiche in den kapitalistisch-neoliberalen Ländern andererseits erklärt vieles. Es steht außer Zweifel und wird auch von WHO und UNICEF bestätigt, dass das Gesundheitssystem der Insel Vorbild in vielen Bereichen für die europäischen Staaten sein könnte.
Was bedeutet das für künftige Pandemien, die – Prognosen zufolge – noch verheerendere Auswirkungen haben könnten als die derzeitige?
Paech: Man sollte sich ruhig einmal die Organisation der Vorsorge und ärztlichen Versorgung vor Ort in Kuba anschauen. Wer den Lockdown hier auch mit der Überlastung des Gesundheitssystems begründet, könnte dort Alternativen zur Entlastung finden.Elsner:
Neue Pandemien könnten zum globalen Zerfall in parallele Welten führen: In eine Teilwelt, die den Kampf gegen Virusmutationen verliert, daher aufgibt und die resultierenden hohen Totenzahlen hinnehmen wird, und einen Teil der Welt, der sein gesellschaftliches und politisches Handeln qualifiziert und international zu kooperieren lernt, der sich so die Chance erhält, im »Rüstungswettlauf« mit den Coronaviren in Forschung, Gesundheitswesen, sozialer Organisation und bei sozialer Mobilisierung mitzuhalten und seine gesundheitliche Resilienz langfristig zu erhöhen.
Wäre der Friedensnobelpreis für die Henry-Reeve-Brigaden in diesem Sinne auch eine Art Aufforderung zum globalen Umdenken?
Elsner: Genau das wäre Sinn und Kern dieses Friedensnobelpreises: ein symbolischer Auftakt für neues Denken, neue Strukturen und Prozesse, für umfassende kollektive Handlungskapazitäten, die umfassende Solidarität erst möglich machen. Sonst verlieren wir den Wettlauf mit dem Virus, den Wettlauf um das globale Klima und um »Global Health«. Dann wäre ganz schnell Schluss mit dem kleinen Schlaumeier namens Homo sapiens.
Paech: In der Tat, das gäbe ein unübersehbares Signal für ein neues Bewusstsein und eine Umkehr aus dem Dilemma profitgebundener Handlungsunfähigkeit. Solidarität, die von der Rendite großer Pharma- und Gesundheitskonzerne abhängt, ist eine gebremste Solidarität. Sie kann sich offensichtlich nur in gesellschaftlicher Verantwortung entfalten, wofür das Henry-Reeve-Kontingent ein eindrucksvolles Beispiel ist.