Trotz US-Blockade: Sozialistisches Kuba beginnt mit klinischer Studie von eigenem Impfstoff gegen SARS-CoV-2
Von Volker Hermsdorf
Am Montag hatte Kuba als erstes lateinamerikanisches Land mit der klinischen Erprobung eines eigenen Impfstoffes gegen SARS-CoV-2 an zunächst 20 Freiwilligen zwischen 19 und 59 Jahren begonnen. Da in den ersten 48 Stunden außer einem nicht ungewöhnlichen leichten Schmerz an der Einstichstelle keine unerwünschten Nebenwirkungen aufgetreten seien, werde das im Finlay-Institut für Impfstofforschung entwickelte Serum mit der Bezeichnung »Soberana 01« am kommenden Montag zusätzlich 20 Probanden im Alter zwischen 60 und 80 Jahren injiziert, kündigte Vicente Vérez, der Direktor der Einrichtung, an. Danach würden die Tests bis zum 30. Oktober in einer zweiten Phase mit Hunderten weiteren Freiwilligen fortgesetzt und die Ergebnisse am 15. Februar 2021 veröffentlicht werden, erklärte Vérez am Mittwoch. Er teilte außerdem mit, das international renommierte Institut hoffe, bereits im Oktober mit den klinischen Studien für einen zweiten Impfstoffkandidaten beginnen zu können.
Trotz der seit Monaten ständig verschärften US-Blockade gehört die sozialistische Inselrepublik damit weltweit zu den ersten Ländern, die einen Coronaimpfstoff in die klinische Erprobungsphase gebracht haben. Nachdem Russland sein »Sputnik V« genanntes Serum bereits am 11. August registriert hatte, befinden sich – laut einer Veröffentlichung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom Dienstag – derzeit 31 Impfstoffkandidaten in der klinischen Prüfung.
In der Onlinezeitung Periódico Opción erklärte der ecuadorianische Soziologe Jaime Chuchuca Serrano in der vergangenen Woche, der Erfolg des kleinen, seit 60 Jahren blockierten Kuba besitze eine Symbolkraft, da es im globalen »Impfstoffkrieg« nicht nur um Profite, sondern auch um Kontrolle, Nachweis der Überlegenheit und zukünftige Allianzen gehe. Mit dem von Institutsdirektor Vérez in Aussicht gestellten möglichen zweiten Impfstoffkandidaten könnten die für ihre Effizienz und Zuverlässigkeit bekannten Pharmaexperten der Insel ihre bisherigen Leistungen mit einem doppelten Erfolg beim Kampf gegen die Ausbreitung der Pandemie krönen.
Dabei handle es sich um »ein anderes Serum mit demselben Antigen, aber einer unterschiedlichen Plattform, die von den im Institut entwickelten konjugierten Impfstoffen« stamme, erklärte Vérez. Während bei dem derzeit erprobten Vakzin ein Antigen die Immunzellen aktiviert und die Produktion von Antikörpern anregt, sind konjugierte Impfstoffe in der Lage, eine stärkere und längere Immunität zu erzeugen. Es gebe dazu bereits interessante Resultate, sagte der Institutschef. Die staatliche biopharmazeutische Unternehmensgruppe Bio Cuba Farma kündigte an, ausreichende industrielle Fertigungskapazitäten aufzubauen, um »Millionen von Impfdosen zu produzieren, die zum Schutz unserer Bevölkerung erforderlich sind, sobald die Untersuchungen erfolgreich abgeschlossen sind«.
Falls bis Anfang nächsten Jahres positive Ergebnisse vorliegen, wäre das nicht nur für die Bürger Kubas, sondern auch für die vieler anderer Länder des globalen Südens eine gute Nachricht – insbesondere dort, wo Gesundheitsexperten seines Landes solidarische Hilfe bei der Bekämpfung von Krankheiten leisten, kommentierte Rubén García Abelenda, Havannas Botschafter in Gambia, in einem Beitrag des Onlineportals Rebelión. Der Diplomat bezeichnete die Entwicklung von »Soberana 01« als »Doppelsieg im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie und die US-Blockade«. Der erste in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik entwickelte Impfstoff sei ein »weiterer Schlag ins Gesicht der Anführer des Wirtschafts-, Handels- und Finanzkriegs, den Washington gegen die karibische Nation führt«. Trotz aller Strangulierungsversuche habe Kuba bewiesen, dass es »eine medizinische, wissenschaftliche und solidarische Macht ist und bleiben wird«.
Doch für Havanna geht es um mehr als wissenschaftliche Anerkennung. Sollte es dem Land gelingen, die coronabedingten Einschränkungen im nächsten Jahr mit Hilfe eines sicheren Impfstoffs zu reduzieren, könnten die verheerenden Blockadefolgen zumindest teilweise kompensiert werden. Washington hat in den vergangenen Monaten nicht nur versucht, das Land komplett von der Versorgung mit Treibstoffen abzuschneiden, sondern auch die Lieferung von Medikamenten, medizinischen Geräten, Verbrauchsmaterialien und Rohstoffen zu unterbinden. Zusätzlich zur verschärften US-Blockade und den Auswirkungen der Coronakrise hatte Kuba im Frühjahr mit einer Dürre zu kämpfen, in deren Folge die landwirtschaftliche Produktion weiter einbrach und der Bedarf an Nahrungsmittelimporten stieg.
Die bundeseigene Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing (German Trade and Invest, GTAI) schätzt, dass Kubas Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2020 um 8,3 Prozent schrumpfen wird. Die Reserven in Fremdwährungen seien gegenüber dem Vorjahr um 15 Prozent auf rund 8,3 Milliarden US-Dollar (sieben Milliarden Euro) zusammengeschmolzen und könnten, Prognosen zufolge, im kommenden Jahr auf 7,3 Milliarden US-Dollar sinken. Angesichts derart düsterer Prognosen könnte der kubanische Impfstoff mittelfristig zu einer Entspannung beitragen. Das britische Analyseunternehmen »Economist Intelligence Unit« (EIU) hält für 2021 immerhin ein Wachstum von 2,3 Prozent für möglich. Langfristig hängt die Erholung der kubanischen Wirtschaft jedoch in erster Linie davon ab, ob es gelingt, die seit 60 Jahren bestehende US-Blockade zu beenden.
Hintergrund: Corona in Kuba
Die kubanischen Behörden haben am Donnerstag abend (Ortszeit) ein drastisches Maßnahmenpaket angekündigt, um einen in Havanna und einigen anderen Städten festgestellten starken Anstieg von Coronaneuinfektionen einzudämmen. Der 11,2 Millionen Einwohnern zählenden Inselrepublik war es bisher weltweit mit am besten gelungen, das Virus in Schach zu halten. Die täglichen Neuinfektionen konnten auf ein Minimum reduziert werden, und die Zahl der Todesopfer liegt mit knapp 0,8 pro 100.000 Einwohner weit unter den Werten anderer Länder der Region. Die Statistik der Johns-Hopkins-Universität bescheinigte Kuba am Freitag mit bisher 3.806 Infizierten, von denen 3.195 als geheilt gelten und 92 verstorben sind, eine noch immer günstige Situation.
Gesundheitsminister José Ángel Portal schlug jedoch Alarm, weil allein auf den vergangenen Monat mehr als 1.200 Neuinfektionen entfallen waren. Francisco Durán García, der Direktor für Epidemiologie des Gesundheitsministeriums, bezeichnete die Situation nach einem Ausbruch in Havanna als besorgniserregend. Ohne energische Maßnahmen werde das Erreichte in Frage gestellt, warnten Experten. Deshalb werde zunächst für die Zeit vom 1. bis zum 15. September eine teilweise Ausgangssperre für die Hauptstadt verhängt, kündigte Havannas Gouverneur Reinaldo García an. Zwischen 19 und fünf Uhr dürfen keine Personen- oder Gütertransporte stattfinden. Fahrten mit privaten Pkw und Motorrädern sind in dieser Zeit verboten.
Ausnahmeregelungen gelten für den Transport von Nahrungsmitteln und für lebensnotwendige Dienstleistungen. Betriebe, die keine unverzichtbare Produktion oder prioritäre Dienste ausführen, werden bis auf eine Mindestzahl von Mitarbeitern geschlossen. Wo möglich, sollen Beschäftigte ihre Tätigkeit in Tele- und Heimarbeit ausüben. Feiern und Veranstaltungen sind untersagt, der Reiseverkehr nach und aus Havanna wird eingeschränkt und an den zwölf Zugangspunkten zur Stadt kontrolliert. (vh)