Jahresrückblick 2022. Heute: Kuba. Havanna trotzt vielseitigen Schwierigkeiten mit Ausdauer und Solidarität
Von Volker Hermsdorf
Kubas Hoffnung auf wirtschaftliche Erholung ist im Jahr 2022 durch mehrere Ereignisse gedämpft worden. Zwar habe das Land die Coronapandemie dank eigener Impfstoffe unter Kontrolle bringen können, doch seien die Ziele des Nationalen Wirtschaftsplans nicht erreicht worden, räumte Wirtschaftsminister Alejandro Gil am 12. Dezember auf der letzten Parlamentssitzung des Jahres ein. Statt um die angestrebten vier sei die Wirtschaft nur um zwei Prozent gewachsen. Das Angebot an Nahrungsmitteln, Medikamenten und Treibstoff sowie die Stromversorgung konnten nicht in dem Ende 2021 prognostizierten Umfang verbessert werden. Der vor zwei Jahren auch in Kuba durch die Pandemie und die internationale Wirtschaftskrise begonnene Abwärtstrend wurde allerdings gestoppt. Das Bruttoinlandsprodukt war nach einem Rückgang um knapp elf Prozent im Jahr 2020 bereits 2021 wieder um 1,3 Prozent gestiegen und hat sich in diesem Jahr um gut zwei Prozent erhöht. Für 2023 werde ein Wachstum von drei Prozent bei konstanten Preisen angestrebt, sagte Gil.
Drei schwere Unglücke
Trotz sinkender Coronainfektionszahlen blieb Kuba aber auch 2022 in einer schwierigen Lage. Die US-Blockade und westliche Sanktionen gegen Venezuela und Russland verschärften Probleme bei der Energieversorgung und dem Warenangebot. Washington versuchte weiterhin, die Lieferung von Treibstoffen nach Kuba zu unterbinden. Stromausfälle und Transportprobleme gingen nur langsam zurück. Die von westlichen Staaten gegen Moskau verhängten Sanktionen versetzten der sich gerade erholenden Tourismusbranche nach der Pandemie einen neuen Schlag, da mehrere Länder Überflugrechte für Maschinen aus Russland verweigerten. Die weltweit steigende Inflation und explodierende Nahrungsmittelpreise trafen das unter Devisenmangel leidende Kuba besonders hart.
In dieser ohnehin angespannten Situation erschütterten drei schwere Unglücke die Insel zusätzlich. Am 6. Mai zerstörte die Explosion eines Gastanks das Luxushotel »Saratoga« in der Altstadt von Havanna. Drei Monate nach dem Gasunglück schlug am 5. August ein Blitz in der rund 100 Kilometer östlich der Hauptstadt gelegenen Hafenstadt Matanzas in eines der wichtigsten Rohöllager des Landes ein. Der Großbrand forderte 16 Menschenleben, über 120 Verletzte und vernichtete Millionen Liter Rohöl und Dieselkraftstoff. Ende September verwüstete dann der Hurrikan »Ian« den Westen Kubas. Allein in der Provinz Pinar del Rio wurden bis zu 10.000 Häuser und Wohnungen zerstört sowie rund 76.000 Gebäude beschädigt. In einigen Landesteilen fiel die Stromversorgung bis zu fünf Tage aus. Durch Ausfall von Kühlsystemen verdarb ein großer Teil der privaten Vorräte und derjenigen Ernten, die nicht schon durch den Sturm vernichtet worden waren. Auch in der Landwirtschaft richtete der Hurrikan schwerste Verwüstungen an. Bereits im Juni hatte Tropensturm »Alex« Leitungen und Gebäude zerstört und über 4.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzflächen unter Wasser gesetzt.
»Wir haben zwar noch nicht wieder die Werte von 2019 erreicht, aber auch keinen Rückschritt erlitten«, zog Gil im Parlament Bilanz. Als Beispiel führte er an, dass die Exporte 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 816 Millionen US-Dollar gestiegen seien, allerdings immer noch unter dem Niveau vor der Pandemie lägen. Für das kommende Jahr hofft Gil auf einen Anstieg der Deviseneinnahmen um 1,037 Milliarden US-Dollar und eine weitere Steigerung der Exporte um 318 Millionen. Ebenso ehrgeizig ist das Ziel von 3,5 Millionen Touristen, eine Verdoppelung gegenüber diesem Jahr. Wenn die Rechnung für 2023 aufgeht, sollen rund 1,648 Milliarden Dollar für Lebensmittelimporte bereitgestellt und mehr als elf Milliarden kubanische Pesos (416 Millionen Euro) in die heimische Nahrungsmittelproduktion investiert werden. Damit sollen neue Kapazitäten in den Bereichen Reis- und Getreideanbau, Geflügelindustrie, Fischerei und Viehzucht geschaffen werden. Gil musste jedoch einräumen, dass das Devisendefizit »nach wie vor das Haupthindernis für die Wirtschaft« sei.
Alte und neue Partner
Um dieses und andere Hindernisse abzubauen, brachte Präsident Miguel Díaz-Canel im November von seiner Reise nach Algerien, China, Russland und die Türkei Zusagen für die Stundung offener Auslandsschulden und Verträge über Lieferungen von lebenswichtigen Gütern und Investitionen nach Havanna mit. Algerien erließ alle Altschulden, sagte die Lieferung von Treibstoffen zu und schenkte Kuba ein Photovoltaikkraftwerk. Neben mehreren Kooperationsvereinbarungen und der Lieferung von Erdöl, Medikamenten, Lebensmitteln und Rohstoffen werden auch die anderen drei Länder der Insel bei der Umstellung auf die Nutzung erneuerbarer Energiequellen helfen. Kuba will deren Anteil am allgemeinen Strommix bis 2030 von derzeit rund fünf auf 37 Prozent erhöhen.
Die Chancen für eine Wiederbelebung der strategischen Partnerschaft mit Brasilien, der neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt, stehen mit der Wahl des Vorsitzenden der linken Arbeiterpartei (PT), Luiz Inácio Lula da Silva, zum neuen Präsidenten ebenfalls gut. Alle fünf Länder der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), in denen mit über drei Milliarden Menschen rund 40 Prozent der Weltbevölkerung leben, sind mit einem Politikwechsel in Brasilien wieder Partner und Verbündete der sozialistischen Inselrepublik. Weltweite Unterstützung erfuhr Kuba auch zum 30. Mal in Folge in der Vollversammlung der Vereinten Nationen, als am 3. November 185 der 193 UN-Mitglieder für eine Resolution stimmten, mit der die USA zur Beendigung der Blockade aufgefordert werden.
Während Versorgungsmängel und Stromabschaltungen die Bevölkerung weiterhin zermürben, was sich unter anderem an der – für die BRD und andere europäische Länder traumhaften, für Kuba aber niedrigen – Beteiligung von 68,5 bei den Kommunalwahlen Ende November zeigte, erfuhr ein neues Familiengesetz breiteres Interesse. 74 Prozent der Wahlberechtigten hatten am 25. September in einem Referendum mit 67 gegen 33 Prozent der abgegebenen Stimmen eines der weltweit fortschrittlichsten Familiengesetze angenommen. Evangelikale Sekten und einige aus den USA finanzierte Contras hatten vergeblich versucht, das neue Gesetz zu verhindern. Mit dem neuen »Códico de las familias« ist Kuba nun eines der ersten Länder Lateinamerikas, das die Ehe für alle und eine Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare offiziell zulässt.
Eine der größten Herausforderungen, die Abwanderung von jüngeren Leuten und Fachkräften, die 2022 neue Höchststände erreichte, dürfte auch im kommenden Jahr fortbestehen, wenn es nicht gelingt, die wirtschaftliche Situation und die Versorgungslage spürbar zu verbessern. Die Regierung scheint sich dessen bewusst zu sein. Wirtschaftsminister Gil erinnerte daran, »dass der Hauptgegner des alternativen kubanischen Gesellschaftsmodells und seine Verbündeten weiterhin alles dafür tun werden, um die Revolution zu zerstören, indem sie unsere Wirtschaft erstickten«. Gil stimmte die Abgeordneten des Parlaments Mitte Dezember darauf ein, »dass wir eine schwere Aufgabe vor uns haben, um die komplexen Probleme – ohne Triumphalismus, aber mit Optimismus – zu bewältigen«.
Quelle: Ausgabe vom 23.12.2022, Seite 6 / Ausland