Wirtschaftsbeziehungen: EU in Lateinamerika auf absteigendem Ast. Freihandelsabkommen sollen Ausbeutung von Ressourcen sichern
Von Jörg Kronauer
Brüssel feiert es, in Lateinamerika aber trifft es bei nicht wenigen auf scharfe Kritik: das erneuerte, deutlich ausgeweitete Freihandelsabkommen zwischen der EU und Chile, auf das sich beide Seiten am 9. Dezember geeinigt haben. Rein formal handelt es sich um eine Aktualisierung des bestehenden Assoziierungsabkommens aus dem Jahr 2002, das den EU-Staaten bzw. ihren Unternehmen schon heute einen privilegierten Zugang zum chilenischen Markt verschafft. Allerdings geht es über die bisherigen Regeln ein gutes Stück hinaus. So gewährt es Investoren aus der EU in Chile die gleichen Rechte wie einheimischen. Es nimmt der Regierung in Santiago außerdem Optionen, den Export chilenischer Rohstoffe zu beschränken. Das ist äußerst günstig für die deutsch-europäische Energiewende: Mehr als 60 Prozent des EU-Lithiumimports kommen aus Chile; auch sind künftige Lieferungen grünen Wasserstoffs im Gespräch. Das Freihandelsabkommen, so heißt es in Brüssel, trage dazu bei, Europa eine ökologische Zukunft zu garantieren.
Enger an China
Alles gut also? Mitnichten. Über 500 Organisationen und Einzelpersonen haben inzwischen einen Aufruf unterschrieben, der an dem neuen Abkommen kein gutes Haar lässt – aus gutem Grund. Der Aufruf, initiiert von chilenischen Kritikern, unterzeichnet zum Beispiel auch von der internationalen Kleinbauernorganisation Via Campesina oder dem französischen Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon, nimmt sich exemplarisch den grünen Wasserstoff vor, den Brüssel aus Chile zu importieren plant. Um ein Kilogramm davon herzustellen, benötige man zehn Liter Süßwasser und größere Mengen erneuerbarer Energien, die man mit Solar- und Windanlagen auf landwirtschaftlich nutzbaren Flächen gewinnen müsse, heißt es in dem Appell; anstatt Nahrung für Entwicklungs- und Schwellenländer zu produzieren, gewinne man Energieträger für Autofahrer im reichen Westen, die sich zu fein sind, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Das neue Freihandelsabkommen sei schlicht »ein Ausdruck des Neokolonialismus«, der in diesem Fall »der Elektromobilität der EU« diene, also »grünen« Zwecken.
Das erweiterte Freihandelsabkommen, das Brüssel mit Chile geschlossen hat – es muss nun noch von den EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden –, ist recht charakteristisch für das neue Verhältnis zwischen Lateinamerika und der EU. Insgesamt haben die Beziehungen, so formulierte es kürzlich die regierungsnahe Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), »vor allem im letzten Jahrzehnt an Intensität und Relevanz verloren«. Lateinamerika bindet sich immer enger an China und setzt sich dabei, zum Beispiel bei der Nutzung von Huawei-Technologie für 5G, immer öfter gegen Widerstände aus den USA durch. China ist inzwischen zweit-, in Südamerika sogar größter Handelspartner; die EU liegt nur noch auf Platz drei, und wenngleich sie beim Altbestand an Direktinvestitionen noch Nummer eins ist: Tatsächliche wirtschaftliche Dynamik entfaltet sie kaum. »Es fehlt an Projekten, die der Zusammenarbeit Sinn und Zweck verleihen«, konstatiert die SWP; kurz: Europa ist in Lateinamerika, wo es einst im Windschatten der Vereinigten Staaten prosperierte, auf einem absteigenden Ast.
Wiederbelebung schwierig
Was tun? Aktuell setzt die EU vor allem auf zweierlei. Zum einen will sie die bestehenden Freihandelsabkommen ausdehnen und neue schließen. Neben dem mit Chile soll auch das Freihandelsabkommen mit Mexiko erweitert werden; darüber hinaus ist geplant, den Machtwechsel in Brasilien von Jair Messias Bolsonaro hin zu Luiz Inácio Lula da Silva zu nutzen, um endlich das Freihandelsabkommen mit dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) zu ratifizieren. So soll den lahmenden Wirtschaftsbeziehungen wieder Schwung verpasst werden. Hinzu kommt, dass wenigstens einige Staaten Lateinamerikas Rohstoffe besitzen, die für die Energiewende wichtig sind, vor allem Lithium; Chile, Argentinien und Bolivien verfügen über riesige Mengen davon. Den eigenen Zugriff darauf zu stärken, das gilt in Berlin und Brüssel als angesagt.
Wird dieser Zweiklang – Freihandel plus »Rohstoffpartnerschaften« – genügen, um die alten Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika wiederzubeleben? Man darf wohl skeptisch sein: Die Freihandelsabkommen etwa mit Chile und Mexiko sind schließlich nicht neu; und »Rohstoffpartnerschaften« mit Chile und Peru hat die Bundesrepublik bereits vor fast zehn Jahren geschlossen, ohne dass es den Beziehungen wirklichen Schub verliehen hätte. »Ohne eine grundlegende Neuorientierung«, vermutet denn auch die SWP, »wird sich das deutsche und europäische Verhältnis zu Lateinamerika nicht revitalisieren lassen.« Eine Neuorientierung aber ist in der EU nicht in Sicht; selbst ihr Lithium- und Wasserstoffimport verharrt in den Strukturen des Neokolonialismus, wenn auch diesmal in grünem Gewand.
Quelle: Ausgabe vom 24.12.2022, Seite 3 / Schwerpunkt